Das erste Foto

Wislawa Szymborska

Wer ist denn der Süße im Strampelanzug ?

Vielleicht wird aus ihm ein Doktor der Rechte,
vielleicht ein Tenor an der Wiener Oper?
Wem diese Patschhändchen, Öhrchen, Äuglein, das Näschen, das Hälschen,
das milchgefüllte Bäuchlein einmal gehören werden, ist nicht bekannt.
Vielleicht einem Buchdrucker, einem Kaufmann, Pfarrer,
Medizinalrat?
Wo nur die komischen Beinchen einmal hinwandern werden,
wohin?
Ins Gärtchen, zur Schule, ins Amt, zur Trauung
vielleicht mit der Tochter des Bürgermeisters?

Du Bübchen, Engelchen, Sonnenscheinchen, Krümchen.
Als er geboren wurde vor einem Jahr,
fehlten die Zeichen am Himmel und auf der Erde nicht;
Aprilsonne, Pelargonien am Fenster,
Leierkastenmusik im Hof,
die günstige Prophezeiung auf Seidenpapier,
kurz vor der Niederkunft der prophetische Traum der Mutter,
ein Täubchen im Traum zu sehen, bedeutet Gutes,
es fangen, dann steht ein lang erwarteter Gast ins Haus.

Der Schnuller, die Windeln, das Lätzchen, die Rassel.
Der Bub ist, gottlob und unberufen, gesund.
Er ähnelt den Eltern, dem Kätzchen im Korb,
den Kindern aus anderen Familienalben.
Na na, wer wird denn gleich weinen, gut so,
der Herr Fotograf unterm schwarzen Tuch macht klick.
Klingersches Atelier an der Grabenstraße, Braunau.

Wer ist denn der Süße im Strampelanzug?

Das ist klein Adi, der Sohn der Hitlers.
Braunau ist eine nicht allzu große, ruhige Stadt.
Solide Firmen, biedere Nachbarn,
Geruch von Hefeteig, Kernseife und so fort.
Kein Hundegeheul, keine Schicksalsschritte.
Der Lehrer für Weltgeschichte lockert den Kragen
Und beugt sich gähnend über die Schülerhefte.

Wislawa Szymborska
 
Gedichte
Herausgegeben und übertragen von
Karl Dedecius
Suhrkamp Taschenbuch 2589
Frankfurt am Main 1996

Eingeschickt von O.K. aus Erfurt